zur geschichte und arbeitspraxis der sfd

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(christian ide hintze: aus einem referat: "aspekte einer literatur akademischen avantgarde". forum stadtpark. oktober 1996)

 

als wir (1) im mai 1991 mit dem projekt sfd begonnen haben, mussten wir davon ausgehen, dass es nicht ganz einfach sein wuerde, die fuer die realisierung notwendigen partner zu finden. das thema war anruechig geworden
1) durch eine reihe von dritt- und viertklassiger autoren, die landauflandab sogenannte "schreibwerkstaetten" organisierten und mit untauglichen mitteln nichts weiter als schlechte literatur vervielfaeltigten
2) durch sogenannte "selbsterfahrungs-workshops", in denen zur foerderung der sogenannten "kreativitaet" sogenannte "schreibspiele" sozusagen "animatorisch" eingesetzt wurden
3) durch literaturakademien in den laendern des damals zum teil noch "real existierenden sozialismus", an denen unter anderem schriftsteller auch ideologisch zur erfuellung ideologisch motivierter staatszwecke erzogen und ausgebildet wurden.
4) wie gesagt: durch den romantischen geniekult
5) durch den psychologischen narzissmus. joerg drews hat dazu folgendes geschrieben (im nachwort zu dem von ihm herausgegebenen buch "dichter beschimpfen dichter): "zuzugeben, dass frueher lebende oder mitlebende autoren auch grosses geleistet haben, etwa gar grosses, von dem man gelernt hat, bringt offenbar der narzissmus der poeten kaum ueber sich". ein, doch mit einigem stolz gesprochener satz wie "ich bin schueler von ..." der in der musik, der bildenden kunst oder der schauspielerei ueblich ist, war und ist bis heute in der literatur durchaus verpoent.

umso groesser war die ueberraschung, als bereits im juni 1991der damalige rektor der hochschule fuer angewandte kunst, oswald oberhuber, sich bereit erklaerte, mit uns zu arbeiten und uns die raeumlichkeiten der hochschule fuer die durchfuehrung der lehrveranstaltungen zur verfuegung zu stellen. 3 monate spaeter lagen die unterstuetzungserklaerungen aller bedeutenden in wien arbeitenden literaturveranstalter vor. einzige ausnahme: der pen-club. weitere 3 monate spaeter gab es erste finanzierungszusicherungen von seiten der gemeinde wien und des zustaendigen bundesministeriums. im april 92 trat eine reihe namhafter autoren erstmals oeffentlich als unterstuetzer des projekts sfd auf: h.c. artmann, wolfgang bauer, gerhard ruehm, allen ginsberg, anne waldman, jackson mac low, anne tardos, henri chopin, inger christensen - um nur einige zu nennen.

die erklaerung fuer diese vergleichsweise grosse zustimmung liegt, glaube ich, in den paar grundgedanken, die wir zu beginn formuliert hatten. kein langes, allesbeschraenkendes manifest. lediglich einige prinzipielle setzungen, die dennoch raum fuer zukuenftige adaptionen offenliessen:
1) als lehrer sollten ausschliesslich primaerwissende eingeladen werden. also dichter. keine wissenschaftler, journalisten, keine verleger
2) die lehrenden sollten ein anerkanntes werk vorgelegt haben. ezra pound: "a noteable work"
3) die lehrenden sollten fuer eine literatur stehen, die nicht eingefuehrte sprachmuster bloss routiniert wiederholt, sondern neue horizonte sucht.
4) der lehrakt sollte immer auch als moeglicher kunstakt verstanden werden. der lehrakt als primaerliterarische taetigkeit.
5) nicht ausbildung, nicht paedagogik, sondern erfahrungsaustausch, erprobung von uebungen in form von kollegial gefuehrten gespraechen und werkentwicklungsprozessen.
6) die spezifisch wienerischen pionierleistungen sollten eine rolle spielen: stegreifspiel, sprachphilosophie, sprachkritik, wittgenstein, das wiener kaffeehaus, die wiener gruppe, der aktionismus, die infrastrukturellen ansaetze, die berufspolitischen ansaetze (im maerz 1982 - ich glaube, dass das nicht allzu bekannt ist - hatte in wien der zug der wenigen, die sogenannte und so auch historisch richtig bezeichnete "erste abendlaendische dichterdemonstration" stattgefunden. eine demonstration, bei der erstmal dichter fuer ihre rechte auf die strasse gegangen sind. peter weibel, hilde spiel, julian schutting, josef haslinger, brigitte schwaiger waren einige der initatoren.
7) das veranstalterische muster sollte folgendes aussehen haben: die sfd organisiert, je nach moeglichkeit und nachfrage, 1-, 2- oder 3-mal pro jahr sogenannte "akademien". eine akademie dauert, je nach moeglichkeit und nachfrage, 7 bis 14 tage. der lehrkoerper setzt sich aus jeweils 4 bis 12 dichtern zusammen, die in folgenden arbeitssegmenten taetig sind:
a) sie leiten klassen, in denen es um diskussion und entwicklung von texten bzw. sound- bzw. performance-strukturen geht
b) sie leiten sogenannte "lehrgespraeche", in denen in 4-augen-situationen spezielle anliegen oder arbeiten einzelner studenten besprochen werden
c) sie halten allgemein zugaengliche vorlesungen zum thema ihrer jeweiligen klasse
d) sie treten mit beispielen aus ihrem werk auf und
e) sie praesentieren zum abschluss gemeinsam mit ihrer klasse arbeitsergebnisse.
8) die hypothese: dichter lehren anders als lehrer, die lehren.
9) die behauptung: alte bohémistisch-spontaneistische organisationsanstrengung koenne heutzutage auch in der literatur mit professioneller imagearbeit, mit sponsoring, promotion, networking und eventmaking - so haben damals diese anglikanischen worte geheissen- verbunden werden.
10) kontaktaufnahme mit bekannten dichter-lehrern, deren erfahrungen und anerkannte pionierleistungen auf den gebiet dichtung-unterrichtung sie zu einer art "literaturakademischen avantgarde" machen: anne waldman, allen ginsberg, jack collom, anselm hollo, usa; huynh khai vinh, vie; helmut richter, ger; andrej bitov, rus; ernst jandl ("frankfurter vorlesungen"), aut
11) kontaktaufnahme mit anderswo in der welt bestehenden dichterschulen: damals waren das: die jack kerouac school of disembodied poetics in boulder, colorado, usa; das literaturinstitut nguyen du in hanoi, vietnam; das gorki institut in moskau. sowie das nach dem modell des gorki-instituts arbeitende, damalige johannes r. becher literaturinstitut in leipzig, das heute unter veraenderten bedingungen deutsches literaturinstitut leipzig heisst und z.z. von prof. bernd jentzsch geleitet wird. ich moechte hinzufuegen: auf eine derart treudeutsch altvattrisch akademische weise, das wir mittlerweile den kontakt nicht weiter verfolgen.
12) das thema der lehr- und lernbarkeit von literatur sollte historisch erforscht werden. sappho, sturluson, anna maria schurmann (2), opitz (3) , zesen, schottel, buchner, birken, harsdoerffers "frawen-zimmer gespraech-spiele", der palmorden oder diefruchtbringende gesellschaft, der pegnesische blumenorden , usw.
13) sammlung und dokumentation aller thematisch relevanten publikationen. d.h. einrichtung eines speziellen schrift-, audio-, video-archivs.
14) nach und nach publikation relevanter arbeiten in der gemeinsam mit dem passagen verlag gegruendeten buchreihe (sowie, erst 1996 hinzugekommen, in der gemeinsam mit dem orf gegruendeten cd-edition)
15) die kuenstlerische leitung sollte bei einem autor/ einer autorin liegen. die exekutive bei profis aus den bereichen veranstaltungsorganisation, marketing und pr., bei profis, die eine gewisse liebe zur poesie mitbringen sollten. allen ginsberg: "it's very good if you could find some friends of poets, freunde der poesie, to man the office and answer the telephone and raise the money and treat poets nicely like little gentle lambs who live in attics in the city" (4).

ein wichtiger punkt, der erst im laufe der zeit hinzugekomen ist:
16) besondere foerderung einer avantgarde, die die infrastrukturelle avantgarde genannt werden koennte. also jener dichter, die zweifach begabt sind, einerseits auf dem gebiet der dichtung, anderseits auf dem gebiet der organisation bzw. des managements, und mit dieser doppelbegabung auch bewusst arbeiten. diese infrastrukturalistischen poeten werden meiner ansicht nach in zukunft die hauptverantwortlichen fuer die zu leistende perspektivenoeffnung tragen, bzw. tragen sie bereits seit laengerem.
zu nennen sind insbesondere: anne waldman, die mitbegruenderin und leiterin der kerouac school; angela garcia und fernando rendon, die gruender und direktoren des z.z. groessten poesiefestivals der welt, des festival internacional de poesía in medellín, kolumbien; esteban moore, der gruender und leiter der casa de poesía in buenos aires; reina maria rodriguez, die gruenderin und leiterin der casa de poesía in havanna; alfred kolleritsch und walter grond in graz. ich glaube, dass wir es hier mit genau jener avantgarde zu tun haben, nach der die theoretiker der post-postmoderne so ergebnislos gesucht haben. mit einer avantgarde, die nicht mehr fortgeschritten ist in bezug nur auf die ergebnisse einer literatur- bzw. kunstanstrengung im herkoemmllichen sinn wie beispielsweise die surrealisten, die lettristen, die dadaisten, die futuristen, die wiener gruppe, etc., sondern die erstmals auch die infrastrukturellen rahmenbedingungen, die die alten avantgardisten nicht wirklich angetastet haben, nun antasten, in die literatur- und kunstanstrengung miteinbeziehen, als die kuenstler, die sie sind, kuenstlerisch veraendern und eine explizit kuenstlerorganisatorische leistung damit verbinden.

die programmatischen richtlinien der sfd sind einer staendigen diskussion und neuordnung ausgesetzt. wesentliche ratgeber in diesem prozess sind jene autoren, die kontinuierlich mit uns arbeiten. es hat sich ueber die jahre eine art "stammlehrerschaft" herausgebildet, der im grossen und ganzen die bereits erwaehnten autoren der ersten stunde angehoeren. mittlerweile hinzuzuzaehlen sind ferdinand schmatz, peter rosei, sainkho namtchylak und die new yorker voice-poetin julie patton. der gedankenaustausch findet in form von informellen gespraechen, spontanen telefonaten, privaten trinkgelagen, offiziellen veranstaltungen sowie im rahmen der sogenannten "lehrerkonferenzen" statt. "lehrerkonferenzen" sind einmal im verlauf jeder akademie stattfindende sitzungen, bei denen die jeweiligen lehrer ueber ihre aktuellen klassenerfahrungen berichten, von ihren arbeitsmethoden reden, kritik aeussern und vorschlaege ueber die weitere vorgangsweise bringen.
ernst jandl und friederike mayroecker, die aufgrund ihrer langjaehrigen erfahrungen als gymnasial- bzw. hauptschullehrer eine gewisse reserviertheit gegenueber dem lehrberuf haben und anfangs auch skeptisch gegenueber der sfd waren, gehoeren seit september 93 ebenfalls dem inoffiziellem ratgebergremium an und sind, wie erst kuerzlich, auch immer wieder zur stelle, wenn es darum geht, durch briefe an politiker oder sonstwie maechtige die staendig gefaehrdete existenz der schule zu sichern. marianne gruber, schriftstellerin und praesidentin der gesellschaft fuer literatur, gerhard ruiss, schriftsteller und geschaeftsfuehrer der ig-autoren, alfred treiber, oe1-rundfunkintendant und leiter der abteilung literatur und feature, sowie kurt neumann, dichter und leiter der alten schmiede in wien, sind staendige gespraechs- sowie fallsweise auch infrastrukturpartner. letzterer war darueberhinaus auch mitglied des sfd -kuratoriums, einer einrichtung, von der ich anschliessend sprechen werde und deren scheitern nun, wie ich hoffe, in graz doch noch einen sinn ergeben wird.

wir haben zu beginn zu schnell zu grosse schritte versucht. in den jahren 1993 und 94 beispielsweise haben wir ein sogenanntes "kuratorium" eingerichtet, dem artmann, bauer, ruehm, rosei, gruberund ich, sowie meine heutigen nachredner ferdinand schmatz und kurt neumann angehoert haben. aufgabe des kuratoriums war es, richtlinien fuer eine zu gruendende literaturakademie bzw. formen eines moeglichen ganzjahresbetriebs zu diskutieren. dieses kuratorium ist aus mehreren gruenden gescheitert. natuerlich aus finanziellen und organisatorischen gruenden, vor allem aber, weil der rahmen letztlich zu klein war, um einen weiteren widerspruch sinnvoll in arbeit umzusetzen. ein projekt wie die sfd muss ja ihrem wesen nach eine reihe von widerspuechen oder sagen wir: dipolaren spannungsfeldern - nicht aufloesen, ... aber in ein einigermassen brauchbares arbeitsfeld uebersetzen: die tendenz, institutionell zu arbeiten, und tendenz, antiinstitutionell zu arbeiten. die tendenz, mit vor- und abschlusspruefungen zu arbeiten, und die tendenz, in der tradition etwa josef beuys´ ohne diese pruefungen, ohne dieses mappenverfahren zu arbeiten. es fehlt jetzt die zeit, alle diese dipolariten aufzuzaehlen.
worauf ich hinauswill: fuer die wesentlichste haben wir keinen weg gefunden. naemlich fuer die widerstreitenden ansichten darueber, welche organisationsform fuer den klassenprozess die geeignetere sei. diejenige, die sich von einer kurzen, quasi einmaligen, eventartigen begegnung zwischen lehrer und student einen effekt erwartet, oder diejenige, die sich von einer langen, wiederholten, etwa inform von meisterklassen, jahresklassen oder semesterklassen organisierten begegnung den groesseren effekt erwartet. beide gleichrangig, gleichwertig, gleichzeitig zu organisieren, ist uns nicht gelungen. wir haben uns schliesslich fuer die erste entschieden.

ich wuerde ihnen gern einen kompletten ueberblick ueber den stand der diskussion geben. aber auch dafuer fehlt heute die zeit. 3 punkte moechte ich zum schluss noch erwaehnen, die sich als entscheidend herauskristallisiert haben:
1) angesichts der aktuellen politischen verhaeltnisse, gerade europas, angesichts einer wachsenden internationalen verwebung von produktion, vermittlung und diskurs, haben wir versucht, an einer erweiterung des nationalen bzw. muttersprach bestimmten literaturbegriffs zu arbeiten. aspekte anderer sprachen sind hinzugekommen. wir haben klassen in englischer, franzoesischer, russischer, spanischer sprache angeboten und haben, auf tuerkisch, auf vietnamesisch, insbesondere auch die in wien lebenden mitbuerger fremdlaendischer herkunft miteinzubezogen. wir unterscheiden uns hier von der kerouac school oder dem leipziger literaturinstitut, die im grossen und ganzen am prinzip der landes- bzw. national- bzw. muttersprachlichen bestimmtheit festhalten.

2) das alphabet verliert zusehends an bedeutung als leitcode der kulturellen kommunikation. vergleichbar etwa dem uebergang von den hieropglyphen zum alphabet ist auch heute ein uebergang zu beobachten. weg vom alphabet, hin zu einem neuen leitcode. einer, der noch nicht codifiziert ist. einer, der neben den schriftlichen vor allem auch akustische, visuelle, computergenerierte elemente verwendet. einer, der andere raum-, zeit-, kommunikations- und nichtkommunikationsmoeglichkeiten schafft. einer, der mitunter eine praegnant analphabetische, genauer: antialphabetische tendenz aufweist. eine tatsache, die fuer schrift-steller nicht ganz uerheblich ist. es war daher naheliegend, eine erweiterung des buchkulturellen literaturbegriffs zu versuchen und aspekte nichtschriftlicher natur hinzuzunehmen: klassen fuer akustische und visuelle poesie, klassen fuer performance und installation. oder wie im oktober letzten jahres in frankfurt durch peter kubelka: eine kochklasse.
kubelka in seiner kassenbeschreibung: "kochen ist eine vollgueltige kunstgattung, welche wie dichtung, malerei oder musik die weltsicht ihrer schoepfer zum ausdruck bringt. die speisenbereitung ist die aelteste poetische veaenderung an der welt durch den menschen, sie ist die mutter der kuenste. der kurs wird vor allem die beziehung des kochens zur literatur und die entstehung der begriffe analyse -synthese - verdichtung - matepher praktisch und theoretisch zum thema haben." (kubelka ist uebrigens sehr als lehrer zu empfehlen).

3) der in bruessel lebende australische organisationsforscher anthony judge schreibt in einem "poetry making - policy making" uebertitelten thesenpapier: "it could be much less a question of whether poetry is "appreciated" or used to "raise consciousness" and much more a matter of how desperately insights from the discipline of poetry-making are needed in the present crisis of policy-making".
vor dem hintergrund zusammenbrechender, ideologisch begruendeter systeme, vor dem hintergrund einer weitverbreiteten skepsis gegenueber jeder art von politischer und sozialer utopie faellt, koennte man sagen, das licht nun auf die kuenstler, in der erwartung, dass die ordnungs- und gestaltungsprinzipien, die sie fuer die kuenstlerische arbeit entwickeln, einestages auch als gesellschaftliche ordnungs- und gestaltungsprinzipien bedeutungsvoll werden koennten. diese erwartung kann nur erfuellt werden, wenn die dichter sich von ihren sowohl weltlichen als auch mythischen abhaengigkeiten loesen und sich selbst einen raum der freiheit und der wuerde schaffen. eine schule fuer dichtung, eine akademie fuer dichtung und kunst koennte ein derartiger raum sein.



(1) die mitglieder des gruendungskollegium waren u.a.: die literaturwissenschaftlerin und slawistin dr. gertraud marinelli-koenig, die kultur- und p.r.-managerin sonja orator, die dichter und schriftsteller christine huber, christian loidl und ide hintze
(2) anna maria schurmann, koeln, 1607-1678
(3) martin opitz hatte 1624 die erste poetik fuer die deutschsprachige literatur veroeffentlicht, in der er regeln fuer metrik, wortwahl, wortstellung und rredeschmuck aufstellte. zesen, schottel, harsdoerffer, buchner, birken gelten als seine nachfolger
(4) aus: gespraech mit allen ginsberg. in: christian ide hintze: die lyrische guerilla. edition selene. klagenfurt 1994.