artmann, travner, u.a.:
"über gänse und kraniche"(gespraech mit renate ganser, meinhard rauchensteiner und dagmar travner, am 20. juni 1992 in wien. aus: c. i. hintze. d. travner. ueber die lehr- und lernbarkeit von literatur. wien. 1993)
travner: ich dachte mir, wir machen eher ein gespraech weniger ein interview, ueber die lehr- und lernbarkeit von dichtung.
artmann: ich kann nur wiederholen, was ich bereits gesagt habe, naemlich, dass ich niemanden beibringen kann, was er machen soll, ich kann ihm nur sagen, was er nicht machen soll, und das ist von mir aus sehr subjektiv gesehen. was ich selbst nicht schreiben wuerde, das kann ich jemandem sagen, aber wie ich das mache, wie ich ansetze, das kann ich nicht erklaeren. das kommt bei mir spontan heraus.
travner: aus dem bauch sozusagen.
artmann: das ist auch schon ein altes wort. "aus dem bauch" - das ist eine ausrede.
travner: der daimon?
artmann: eher das spontane. ich glaube, es ist neutraler, wenn man das sagt. was spontan aus mir herauskommt, das muss ich zunaechst einmal aufschreiben, in die maschine hinein, und dann kommt natuerlich die technische arbeit , die man ueber 20, 30 jahre selbst erlernen muss: das ausfeilen, umbauen und so weiter. aber zunaechst habe ich irgendeinen waschzettel, wo alles notiert steht. der muss schon ziemlich fertig sein, viel darf man daran icht veraendern, nur kleinigkeiten. und manchmal lernt man durch einen lapsus - wenn man etwa mit der maschine danebenhaut.
travner: du hast einmal das beispiel gebracht vom stein, der sich abschleift, in der volksdichtung etwa.
artmann: ja freilich, in der volksdichtung, da ist das so. wenn ich zum beispiel aus dem buch "die sonne war ein gruenes ei" vorlese, lese ich zwar nicht einen anderen text, aber voellig andere begebenheiten heraus. das ist gesprochene literatur, sonst bleibt es papier. das trifft besonders auf dramatische arbeiten, theatertexte zu. man sollte das buch erst nach der ersten auffuehrung wirklich drucken. vorher ist es papier. durch die zusammenarbeit mit den darstellern sage ich mir dann: "ja, das ist eigentlich viel besser, schreib ma des so." - das ist bei jedem verschieden. ich kann so besser arbeiten, - wenn es keine uebersetzung ist, wo ich mich ja nach dem original richten will. bei meinen eigenen texten wuerde ich sagen: "ja, mach das, das ist eigentlich viel besser." dadurch bekommt es dann das geschliffene und eine gewisse natuerlichkeit. man merkt bei ganz schnellen sachen, wie dieser grauenhaften eurocop-serie, dass dieser prozess fehlt. was dort fuer eine sprache gesprochen wird, zieht einem die schuhe aus. der alte hans moser etwa, ist beruechtigt dafuer gewesen, dass er immer seinen eigenen text gesprochen hat. darum ist er witzig. und andere schauspieler wieder sprechen den text herunter, den man ihnen vorgetrottelt hat.
travner: und ab welchen stadium kann man etwas lehren? nehmen wir an, das, was einem der daimon sozusagen diktiert hat, ist auf dem waschzettel. dann muesste man doch lernen koennen, wie es geschliffen, oder wie gefeilt wird, was brachbar ist, und was nicht.
artmann: daran muss man schon etwa 15 bis 20 jahre arbeiten. natuerlich gibt es ganz junge genies, die das hinschmeissen, zum beispiel rimbaud, der hat mit 18 aufgehoert. aber der war fertig! oder georg heym. das ist die sache, von der gerhard (ruehm) gesagt hat, dass man sich unbedingt mit der literatur und literaturgeschichte befassen muss. wenn man diese nicht kennt, dann macht man etwas, was schon da war. anders aber weiss man, was man jetzt schreiben kann, und was man nicht schreiben kann. wenn ich musik mache, muss ich doch ein bisschen musikgeschichte studiert haben, und wenn ich literatur mache, muss ich literaturgeschichte studieren.
rauchensteiner: inwiefern ist das nachahmen wichtig fuer einen lernprozess?
artmann: meines erachtens ueberhaupt ncith.
rauchensteiner: aber in einigen kulturen ist man erst vollstaendig ausgebildet, wenn man als schueler den meister so nachmachen kann, dass die unterscheidung unmoeglich ist.
artmann: aber das ist ein paar hundert jahre her. in klassischen kulturen, etwa im japanischen, oder im keltischen bereich ist das so gewesen. das individuum ist heute doch viel staerker da.
rauchensteiner: das heisst, dass diese art des lernprozesses nichts mehr bringt. das nachahmen haette also diese funktion verloren.
artmann: es ist ja fad fuer den leser.
travner: nicht zum veroeffentlichem, sondern als "uebungsstunde".
artmann: das ist doch sinnlos. wenn man es nicht veroeffentlichen kann, dann pfeif´ ich drauf. ich muss meine frau und mein kind erhalten.
travner: was wirst du dann deinen schplern lehren?
artmann:keine ahnung. die zwingen mich dazu, dass ich was mache.
ganser: was haeltst du davon, dass man zum beispiel gewisse reimregeln vermittelt?
artmann: dafuer kann man sich ein buch kaufen, da steht alles drin. es geht eben um ein gefuehl. es gibt leute, die koennen tanzen, und es gibt welche, die schaffen es nie.
ganser: aber tanzen muss man auch lernen.
artmann: tanzen kannst du nur lernen, wenn du ein gefuehl fuer rhytmus hast. und wenn du das nicht hast, ist es aus. genauso, wie mit einer sprache. entweder du hast talent dazu, oder du hast keines. die einen haben eine begabung, dass sie eine sprache koennen, und andere beherrschen die sprache perfekt, und reden, dass es einem kalt ueber den ruecken laeuft. zum beispiel die italiener. ich habe italienische germanisten reden gehoert, da faellst du um.
ganser: und wo setzt man den fleiss an, oder etwa den willen?
artmann: fleiss darfst du ueberhaupt keinen haben. das ist das schlimmste, was du haben kannst.
rauchensteiner: besteht bei einem lehr- und lernprozess mit mehreren schuelern, nicht auch die moeglichkeit, gerade das muendliche, das du vorhin angesprochen hast, und die muendliche auseinandersetzung zu tradieren und auszuleben?
artmann: was ich an dieser schule schaetze ist, dass ein ungeheuer guter gedankenaustausch stattfindet. der kann wirken, oder auch nicht, aber der gadankenaustausch ist da. wir haben das frueher unter uns gehabt, wir sind im caféhaus gesessen und haben darueber geredet, aber ohne dass wir gesagt haetten, wir sind eine schule. ein rudel von gaensen ist auch eine schule. oder von kranichen. das ist das gute daran, dass man mit leuten reden kann, aber dass man sich hinsetzt, wie in einer schule, und sagt, also du musst jetzt ... und soundso, - nein. ich weiss nicht, wie der wolfi bauer das macht. in seiner art ist er ja grossartig. jeder ist in seiner art grossartig, und wir sind uns alle auf unsere art grossartig vorgekommen, und waren aufeinander nie eifersuechtig. das war das schoene bei uns. eifersucht gibt es nur unter musikern und unter malern. jeder ist von sich selber ueberzeugt gewesen. aber der andere war der beste in seiner art. so war das. ich jedenfalls in meiner naiven grundhaltung, stelle mir das so vor. ich weiss nicht, wie das aus heutiger sicht ausschaut. der konrad bayer war auf keinen fall eifersuechtig. der gerhard ruehm - der gerhard ist einer meiner besten feunde, das ist keine antoniusrede, die ich hier halte - ist genauso eitel wie ich. um das geht es doch. das ist ja das poetische. darueber wollte ich eigentlich reden: dichtung und eitelkeit. das ist mir heute wieder eingefallen. - ich spreche jetzt nur vom gedichteschreiben, nicht von romanen oder anderen literaturgattungen. aber eitelkeit gehoert dazu, und die eitelkeit muss man in worten ausdruecken.
rauchensteiner: gerhard ruehm hat in seiner klasse ganz konkret mit texten gearbeitet.
artmann: ja, es kommt darauf an, der gerhard ruehm ist vielseitig. er hat gedichte in der art, wie ich es mache, und dann die abstrakten texte. - er nennt das konkrete poesie. - konkret und abstrakt: es wird immer gemischt. zu rein mathematischen oder musikalischen formen kann man etwas sagen, aber wenn ich zum beispiel die tusnelda romanzen oder seine chansons hernehme, muss mir einer erst sagen, wie ihm das eingefallen ist. seine dialektgedichte oder der soebstmeadagraunz sind von einer ueberraschenden farbigkeit. ich kann meine dialektgeschichten zum beispiel nicht auswendig, aber seine kann ich auswendig.
travner: kommen wir wieder zum thema. ich habe hier das referat von gerhard ruehm. er sagt:"lehrbar an dichtung sind, wie in der musik und der bildenden kunst, materiale erfahrungen und vorgehensweisen, formfragen, wie sie die poetik behandelt, linguistische und sprachpsychologische aspekte, grenzueberschreitungen zu den benachbarten kuensten, interkulturell vergleichende poetik und - was mir unbedingt wichtig erscheint - die kritische auseinandersetzung mit poetischen tendenzen und traditionen."
artmann: das unterschreibe ich sofort, aber mir faellt so etwas nicht ein, ich bin kein wissenschaftler.
travner: und weiter sagt er: "der mensch lebt nur in relativ geringem mass von eigenem, in sehr viel hoeherem aber von tradierten erfahrungen."
artmann: das dient alles zum ausarbeiten von einem gedicht, aber das gedicht selbst muss ich zuerst in mir tragen, und es muss aus mir herauskommen.
travner: das heisst, zunaechst muesste man die begabung haben, damit es "herauskommt", fuer die ueberarbeitung aber ist die kenntnis moeglicher formen wichtig.
artmann: ja, es kommt schon auch auf die erfahrung an, genau, wie es der gerhard in seinem text beschreibt.
travner: aber dabei kann doch ein lehrer ohne weiteres helfen, oder eine gruppe, ein ort des austausches.
artmann: austausch schon, aber nicht als lehrer. ich mag keine lehrer. ich hasse sie nicht, aber sie sind mir dubios.
travner: aber jemand, der bereits die erfahrung hat...
artmann: aber das ist doch ein voellig anderer organismus, den ich da mit meinen schoenen lehren bearbeiten soll. jeder mensch ist doch voellig anders.
travner: was haeltst du von einer sogenannten meisterklasse an der hochschule fuer angewandte kunst, um ein beispiel zu nennen?
artmann: ja, sicher, das ist alles schoen und gut, aber was ich dazu beitragen kann, weiss ich nicht.
rauchensteiner: es erfordert doch eine gewisse uebung, um es "aus sich herauslassen" zu koennen. in einer bestimmten form meine ich.
artmann: das schlimmste, was man sagen kann, wenn jemand schreibt ist:" er hat seine form gefunden." das heisst soviel wie:"er ist tot." aber das hat es immer geheissen. ich denke an rezensionen, wo geschrieben steht: "mit 50 hat er seine form gefunden." - da kann er sterben gehen. man hat nie seine form gefunden.
travner: es geht als darum, dass man immer eine neue form findet, beziehungsweise sucht, und sich so von einer stufe zur naechsten entwickelt.
artmann: sicherlich. aber nicht eine stufe hoeher. eine andere dimension. die kann links oder rechts oder vorne oder hinten liegen. es ist nicht so, dass das zuvor geschriebene dadurch irgendwie leidet, dass es schlechter ist, wie das bei stufen der fall waere.
travner: das wuerde allerdings bedeuten, dass du in gewisser weise auf der gleichen ebene bist, wie jemand junger, der auch seine form sucht.
artmann: ja, der grundtenor bleibt eben. ich suche genauso meine form. bei einem austausch mit leuten kann man mit jungen viel mehr anfangen als mit festgefahrenen alten.
ganser: inwieweit hat die suche nach einer neuen form mit einer neuen beunruhigung zu tun?
artmann: beunruhigung ist sehr wichtig.
rauchensteiner: glaubst du, dass dichtung sich einer immer kuenstlicheren sprache bedient?
artmann: lyrik hat fuer mich nichts mit gedanken zu tun. sie ist ein ausdruck von gefuehlen, so bloed das klingen mag. - oft hoert oder liest man den satz: "goethe hat gedankenlyrik geschrieben." - aber goethe ist fuer mich ueberhaupt kein lyriker.
rauchensteiner: und celan?
artmann: celan ist ein aboluter surrealist fuer mich und ich habe ihn gut gekannt. er wird spaeter immer abstrakter und abstrakter, aber "sand aus den urnen" ... ich wuerde jedem finnen oder schweden raten, er soll nach oesterreich kommen und sich ein wenig barockisieren, aber als oesterreicher muss man barocke ablegen und wieder ein bisschen klar und geistig werden. dazu muss man eben in den norden gehen. es gibt im norden weder barock noch manierismus. ab schweden habe ich voellig anders geschrieben. ich habe manchmal sehnsucht nach einer ganz luziden klarheit, nach einem salzigen geruch. und dann kommt man wieder in das barocke hinein, in das verschnoerkselte. barock schaetze ich in der musik und in der literatur. barock in der bildenden kunst ist fuer mich grauenhaft. in viele romanische kirchen kommt man hinein, und sieht dan nur barocke schinken drin haengen.
rauchensteiner: was bedeutet fuer dich "kreativitaet"?
artmann: dazu muesste ich mich jetzt aufs clo setzen, dann faellt mir alles ein. da hast du wirklich das einzige platzl in der welt, wo dir was einfaellt. wenn ich fuer eine zeitschrift irgendeinen titel gebraucht habe, bin ich auf das clo gegangen. dort ist mir immer einer eingefallen. jetzt will der hintze einen titel fuer die klasse im herbst ...(blaettert im programmheft) uebrigens: das letzte mal, als ich allen ginsberg traf, in rotterdam, habe ich ihm gesagt"du schaust immer mehr aus, wie der psychiater von woody allen." - das hat ihn gefeut! im grunde ist ginsberg ein sehr liebenswuerdiger und netter mensch, aber ernstnehmen kann man ihn nicht.
rauchensteiner: und khai vinh?
artmann: bitte, ich kenne die gedichte von ho-chi-minh, die sind nicht schlecht gewesen. auch mao tsetung hat wahnsinnig schoene gedichte geschrieben. ein jeder ordentliche mensch kann in diesen breitengraden ein gedicht schreiben.
rauchensteiner: und woran liegt das?
artmann: das ist erziehung. ein jeder beamter muss ein gedicht schreiben koennen.
rauchensteiner: also gibt es doch eine erlernbarkeit von dichtung.
artmann: naja, das ist eine sehr starre poetische form.
travner: aber die starre form fuer den anfang nicht nuetzlich, um zumindest das handwerkszeug zu haben?
artmann: von einer derart starren form kommt man nicht weg. wir sind in mitteleuropa, wir haben eine ganz andere tradition. das kann man nicht vergleichen. ich habe mit japanern gearbeitet, die schreiben wahnsinnig moderne texte. das ist wunderbar. wir haben 10 tage gearbeitet, und hintereinander gedichte geschrieben, kettengedichte. das wurde vorgelesen, wurde sofort uebersetzt, aus dem japanischen ins deutsche oder dem deutschen ins japanische. das ist ungeheuer flott gegangen. danach hat der jeweils andere wieder ein gedicht geschrieben, hat fortgesetzt. ich haette nie gedacht, dass es so etwas geht.
bearbeitet von meinhard rauchensteiner
das buch "c. i. hintze. d. travner. ueber die lehr- und lernbarkeit von literatur. wien. 1993" ist ueber das buero der sfd zu bestellen.