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sabine scholl queer proceedings - geschichte/n herstellen.
basteleien in kurzprosa anhand eines textes von hermann melville.

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vorlesung
(21.9. 2000 im literarischen quartier, alte schmiede, wien)



queer proceedings – geschichte/n herstellen

a. hinter gedanken

die wahrheit ist, dass ich bei jedem eintritt in eine mir fremde welt in die haut eines mir fremden menschen krieche und mir`s dort wohlsein lasse.

(leo perutz)

gefragt, wie man schreiben soll, wüsste ich keine andere antwort als fragen zu stellen, die für mich selbst vor dem anfang stehen.

warum? und warum was?

die antwort könnte lauten, dass ich bearbeiten muss, was mich nicht loslässt, etwas, das ich erfahren will und das andere erfahren sollen. und dann möchte ich das in diesem nachgehen entstandene und aufgefundene zeigen, geltend machen im schreiben.

vorher aber, vor dem beginn, will ich etwas nehmen, etwas aus einem festgefügten und als endgültig vorgestellten zusammenhang reissen. aufgreifen, was eine identität, ein system, eine ordnung ausmacht und durcheinanderbringen. vorgegebene texte, zum beispiel, ihres beabsichtigten und somit vermeintlichen sinnes entkleiden, da sie nicht mehr als sie selbst stehen, sondern sich in beziehung setzen müssen zu anderen vorgaben. starre muster werden durchmischt und material verschoben zusammengestellt. bedeutung, geschichte wird auf diese weise fingiert, als meine fassung, die sich dann aber wieder ändern lässt, je nach vorausgesetzter einstellung.

zum beispiel scheint es gerade jetzt nötig, sich gegen die vereinnahmung von bereichen und begriffen, wie "natur", "kultur", "heimat"," identität" zu wehren. jetzt, wo ausgrenzungen und vereinheitlichungen das geschehen bestimmen wollen, um ängsten, störendem aus vergangenheit und gegenwart zu begegnen. unangenehme flecken des kollektiven, wie individuellen gedächtnisses überdecken zu wollen, läuft nämlich gefahr, die bedeutung von vergangenheit und ihrer widersprüchlichen hervorbringungen zu beseitigen. überkommene, auf deutschtum beschränkte vorstellungen von "heimat", zum beispiel, wollen eine vergangenheit erzeugen, von der geglaubt oder gewünscht wird, dass sie zu einem bestimmten zeitpunkt so gewesen sei. damit wird alles andere, das es damals nicht gegeben haben soll, aufgelöst, übergänge als markierungen von widersprüchlichkeiten gelöscht, vielfalt, komplexität, die beredtheit von wechsel und kontinuität geleugnet.

auf der suche nach heimat und identität wird eine vergangenheit erfunden, die massgaben gehorcht, welche vor allem gegenwärtige bedürfnisse befriedigen sollen. die entfremdeten und verunsicherten brauchen etwas, das sie tröstet, sicher macht und unterhält.

und damit das gefühl der einheit überhaupt funktioniert, wird das negativ einer bedrohung durch doppeldeutigkeit, mobilität und mehrsprachigkeit heraufbeschworen, passend verkörpert im phantom des einwanderers und praktischerweise vom eigenen entfernt, auf den anderen verschoben. genauso konnten sich in einem gespenst des 19. jhdts., dem vampir bram stokers, ängste um den verlust nationaler identität konzentrieren. vorbild für die romanfigur soll ein weltgewandter, vielsprachiger, reisender, ungarischer jude gewesen sein, kein zufall sicherlich.

ich glaube nicht, dass es für den einzelnen wirklich nur eine sprache und eine heimat gibt. daher ist es jetzt, wo der rückgriff auf vergangenes den vereinheitlichern gewicht verleihen soll, nötig, ihnen dieses feld streitig zu machen und nach geschichten zu suchen, die nicht bloss auf eingeborensein und sesshaftigkeit begründet sind, zum beispiel, die verschwiegene geschichte des ein- und auswanderns, des mehrfachen spracherwerbs, der verbindung verschiedener kulturen. es ist nötig, metaphern, bilder, geschichten zu erscheinungen, wie identitätswechsel, verdoppelungen und vervielfachungen zu finden, für die verkörperungen von und im anderen, für die begegnungen mit dem fremden als unterbrechung, unruhe, faszination, schrecken, nicht-verstehen.

schreiben könnte so bedeuten, dem nachzugehen, was man nicht kennt, und es hervorbringen als mögliche weisen einer wahrnehmung des anderen. und es beginnt beim einzelnen, wie bei mir selbst, wie julia kristeva beschreibt:

"seltsam auch diese erfahrung des abgrunds zwischen mir und dem anderen, der mich schockiert – ich nehme ihn nicht einmal wahr, vielleicht vernichtet er mich, weil ich ihn leugne. angesichts des fremden, den ich ablehne und mit dem ich mich identifiziere, beides zugleich, lösen sich meine festgefügten grenzen auf, meine konturen zerfliessen, erinnerungen an erlebnisse, in denen man mich fallengelassen hat, überfluten mich, ich verliere die haltung. ich fühle mich "verloren", "konfus". die varianten des unheimlichen, der beunruhigenden fremdheit sind vielfältig: alle wiederholen meine schwierigkeit, mich im verhältnis zum andern zu situieren, und eröffnen noch einmal den weg der identifikation – projektion, der am grund meines aufstiegs zur autonomie liegt".

julia kristeva, fremde sind wir uns selbst

unheimliche erinnerungen, verfliessende ich-grenzen, beunruhigende fremdheiten könnten so am anfang eines nachforschens über konfrontationen mit dem fremden stehen, der immer als aussenseiter, von aussen her, einer anderen rasse und kultur zugehörig, bestimmt wird. unterschiede werden dabei auch innerhalb der sogenannten europäischen kultur gesetzt, der einwanderer wird immer als "ein anderer" bezeichnet. das geschieht sogar innerhalb von nationen, wie die konflikte zwischen west- und ostdeutschen, in denen ihre ethnische verschiedenheit vorausgesetzt wird, zeigen.

dennoch liessen und lassen sich wanderungsbewegungen nicht verhindern, wie saskia sassen in "migranten, siedler, flüchtlinge", anhand einer anderen geschichte europas nachweist, und das zusammentreffen so unterschiedlicher erscheinungen, wie der kreislauf des internationalen kapitals und der kreislauf von einwanderern, stellt europa vor probleme, denen mit altbekannten spielregeln nicht entgegnet werden kann.

und wie die fremden stört auch das internationale kapital die nationale identität. wie die fremden, wechselt geld seinen ort, überschreitet grenzen, es ist mobil, nomadisch, polyphonisch, überall zuhause, wie ken gelder in einer studie zum phänomen des vampirs, welcher oft mit denselben ausdrücken wie der fremde bedacht wird, aufdeckt.

die demographischen fakten europas und österreichs werden sich nicht ändern, und wählen seine eingeborenen die isolation, entscheiden sie sich gleichzeitig fürs absterben, ihr endgültiges verkalken. böse-buben-sprüche, susi-und-strolchi-logik müssen daher als das benannt werden, was sie sind, infantile regression.


b. vom umgang mit vorlagen

the future is already set, only the past can be changed.

(pat cadigan)

die vorlage, das zu lesende, verstreut umherliegende, das aufgenommen, zusammengetragen, eingesammelt werden muss, kann als etwas, das vorher schon da ist, verstanden werden, eine erleichterung genauso wie eine last. sie wird im laufe des lesens und bearbeitens umgedeutet, bzw. scheint sie von selbst in diese oder jene richtung zu deuten, die dann in der arbeit eingeschlagen wird. eine arbeit, die knoten aufspürt, lockert, löst, untrennbares auseinanderbringt und unvereinbares plötzlich zusammen. alles, um eine bewegung in gang zu halten, die änderungen, ausbesserungen erzeugt, ein ab- und anwenden des alten also, je nachdem.

es geht aber auch im umgang mit vorlagen um die hervorbringung selbst. eine, die nicht das alte wiederbelebt und es als neues setzen will. der rückgriff auf geschichte, widersprüchliche kapitel, unerledigtes, ist ein angriff auf den kanon, das festlegen und das festgelegte, kein ausstattungsstück, das das vergangene vorführt in neu erstelltem gewand. dieser rückgriff als angriff ist nötig, um denen, die ihre ansprüche auf tradition bekanntmachen, auf eine, die das sogenannte alte herüberretten will in diese zeit, und dieses alte ist natürlich konstruktion, ein potemkinsches dorf hinter dem rückschrittliche belange gut zu verbergen sind, denen soll entgegengewirkt werden und der anspruch aus der hand gerissen. schleunigst. und, weil es das wirkliche vergangene nicht gibt, ist endlos viel zu tun im feld des herstellens von geschichten und geschichte.


konkret wird in der übung herman melvilles text aus "moby dick" über die konfrontation des ich-erzählers ishmael mit dem harpunier queequeg verwendet.

der text kann anlass zu erinnerungsübungen des/der schreibenden mit konzentration auf grundlegende wahrnehmungen des andern, als körper, gesicht, handelnder, sprechender sein. diese erinnerungen können autobiographisch und/oder fiktional bearbeitet werden. der/die schreibende kann sich an die vorlage lehnen, sich ihrer bemächtigen, sich selbst einsetzen darin, aufgehen oder davon entfernen, völlig. er/sie kann die vorlage zerlegen, verformen, semantisch, phonetisch, auch optisch verändern. er/sie kann die vorlage übersetzen, in eine andere sprache bringen, ein anderes system, denn auch die begegnung des eigenen mit einer fremdsprache im vorgang des übersetzens ist eine konfrontation mit dem fremden. die übersetzung enthüllt, dass die entfremdung teil der sprache ist.


c. zu ishmael und queequeg bei melville

- you sabbee me, i sabbee you -

in "moby dick" ist queequeg, der tätowierte, aus der südsee stammende harpunier, als gegenpol zum ich-erzähler ishmael gesetzt, eine durch und durch positive figur, die melville u.a. dazu dient, die weisse, christliche zivilisation zu ironisieren. aber obwohl es den anschein hat, dass queequeg im roman als ishmaels retter wirkt, von der überwindung seiner einsamkeit zu anfang, bis zur tatsache, dass ishmael schliesslich auf dem leeren sarg queequegs schwimmend als einziger die katastrophe überlebt, sind zweifel über seine wahre bestimmung, nicht zuletzt auch, da die figur im verlauf der handlung mehr und mehr in den hintergrund tritt, angebracht.

melville beschreibt queequeg als von einem ort kommend, den man auf der landkarte nicht findet, während die herkunft aller anderen figuren geographisch genau bestimmt wird. geoffrey sanborn schlägt in seiner untersuchung zu "moby dick" daher vor, queequeg nicht als "wirkliche" figur zu verstehen, sondern als wahrhaftig einzig in bezug auf die träume zivilisierter, sesshafter menschen. er sei weder nur eine kuriosität, noch ein sinnbild der intersubjektivität.

"to see queequeg correctly is to see his ideality in relation to his nonexistence, in the same way that we see a phantom – or, to use a more modern analogy, a hologram – in relation to the empty space it occupies."

geoffrey sanborn: the sign of the cannibal – melville and the making of a postcolonial reader, duke university press, durham and london 1988.

in der textarbeit, den "queer proceedings" oder seltsamen verrichtungen, ein zitat aus dem text melvilles, soll es jedoch vor allem darum gehen, die erste begegnung ishmaels mit queequeg als anlass einer auseinandersetzung mit dem anderen zu verstehen.

auf der suche nach einer schlafmöglichkeit erhält der ich-erzähler in einer überfüllten herberge vom wirt die auskunft, dass er mit einem harpunier das bett teilen könnte. der wirt will ishmael einen streich spielen, indem er ihn über die person des anderen vorerst im unklaren lässt, um seine neugier bis zum schrecken zu steigern und ihm so seine unerfahrenheit vorzuführen.

die begegnung mit dem fremden an einem fremden ort ist hier verstärkt durch die aufforderung mit dem anderen das bett, den schlaf zu teilen, sich ihm im zustand körperlicher hilflosigkeit und schutzbedürftigkeit anzuvertrauen, körper an körper, eine position, die ansonsten nur nahestehenden, familienmitgliedern oder geliebten, erlaubt wird.

die reaktionen ishmaels auf diesen vorschlag sind daher ablehnung, misstrauen, angst. sein bedürfnis nach schlaf und bequemlichkeit überwindet dann aber die bedenken. es muss sein, er braucht den fremden, bzw. dessen bett.

im halbschlaf und im dunkeln hört er ihn schliesslich kommen. ishmael stellt sich schlafend, um ihn beobachten zu können und beschreibt diese entzifferung des fremden als dauernde abfolge von schrecken und versuchter rückversicherung.

auch als ishmael entdeckt, dass queequegs gesicht voller tätowierungen ist, meint er noch einen weissen matrosen, der auf reisen atavistischen ritualen unterzogen wurde, vor sich zu haben; erst als genug licht auf die haut des harpuniers fällt, erkennt er, dass queequeg nicht opfer wilder bräuche, sondern die verkörperung des wilden selbst ist. dennoch gelingt ihm in diesem moment noch einmal die relativierung von äusserer erscheinung und inneren menschlichen werten:

a man can be honest in any sort of skin.

als ishmael dann bemerkt, dass der kopf des fremden ohne haare ist und wieder angst aufsteigt, versucht er sich seine reaktion als eine folge von nichtwissen zu erklären:

ignorance is the parent of fear...

doch diesmal ist die angst grösser, sie lähmt, und versetzt ishmael in einen zustand der sprachlosigkeit, die seine hilflosigkeit verstärkt. seine private neurose ist aber zeichen einer sehr öffentlichen, sozialen fantasie vom kannibalen, die ein selbst, wie eine gesellschaft benötigt, um sich zu definieren. jetzt, wo es anscheinend um seinen körper als objekt geht, getraut ishmael sich sein gegenüber nicht mehr anzusprechen und dadurch die situation zu ändern. in der angst ist das zimmer sogar zu "seinem" geworden, obwohl es eigentlich das des harpuniers war.

... i was now as much afraid of him as if it was the devil himself who had thus broken into my room...

als ishmael schliesslich den entkleideten, volltätowierten körper des fremden erkennt, macht er ihn nach all den sich steigernden unheimlichen phänomenen endgültig zum wilden.

it was now quite plain that he must be some abominable savage..

die vom ängstlichen ich-erzähler aufgebaute opposition christlich/vertraut/gut und heidnisch/wild/gefährlich wird bestätigt durch ein ritual, das der harpunier vorm zubettgehen vollzieht. das unvertraute aussehen, das unerklärliche tun, die unverständlichen menschlichen geräusche werden als beweis für die un-natur des fremden genommen.

his face twitched about in the most unnatural manner.

als dann die distanz zwischen dem zuseher ishmael und der theaterhaften vorstellung queequegs, in einer verbindung von messer/zähne/sprung, fällt, alles elemente eines aggressiven sich-näherns, reagiert zuerst der körper ishmaels, er schreit.

die kommunikation beschränkt sich auf vorsprachliches. ishmael stammelt, queequeg stösst gutturale urlaute aus. in der unausweichlichkeit einer begegnung mit dem anderen gibt es aber nur zwei möglichkeiten. entweder sprechen oder töten. als der fremde schliesslich das wort an ishmael richtet, ist seine sprache primitiv, mit akzent.

"you no speak-e, dam-me, i kill-e! and so saying the lighted tomahawk began flourishing about me in the dark.

in diesem ärgsten augenblick der konfrontation wird daher eine dritte person, ein übersetzer zwischen beiden welten nötig. durch die vermittlung des gastwirtes erst kommt eine kommunikation in gang, die ishmael queequeg plötzlich verstehen lässt. der harpunier erscheint dem matrosen danach zivilisiert, freundlich, sauber; so wie er sich selbst und seinesgleichen vorstellt. in jeder hinsicht:

the man`s a human being just as i am: he has just as much reason to fear me, as i have to be afraid of him.

und nachdem er den spass verstanden, seine angst überwunden hat, schläft der ich-erzähler so gut, wie nie in seinem leben. und wir sind der gastwirt, der übersetzer, stelle ich mir vor, schreibende, um situationen hervorzurufen, die anderen vorführen, was sie sind und die glauben, dass die sprache hilft.

wem auch immer.

text 22-26

credits:

annegret pelz (zum übersetzen), ferdinand schmatz (zu vorlagen), saskia sassen (zu migranten), geoffrey janborn (zu melville)