dr. hans marte:
rede zur eroeffnung der september-akademie 94

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(dr. marte: direktor der oesterreichische nationalbibliothek)

sehr geehrte damen und herren!

als mich gestern abend ernst jandl einlud, heute bei der eroeffnung der september-akademie 94 ein paar worte zu sprechen, habe ich spontan zugesagt, zunaechst ernst jandl zuliebe, fuer den ich alles tue, und dann, ich geb´s zu, aus purer neugier, um zu hoeren, wie es dem kuehnen experiment, dem laboratorium der dichter, nach drei jahren wohl gehen mag, und, ohne zu ueberlegen, was ein bibliothekar - ich betrachte diese taetigkeit ohne ironie als gipfel meiner bisherigen beamtenlaufbahn - zu diesem anlass wohl beitragen koennte, mit ausnahme eben der befriedigung einer zusaetzlichen neugier, naemlich zu erfahren, wie jene literatur entsteht, die, sollte sie zu papier gebracht werden, eines tages unweigerlich in der nb ihren lauf vollendet - pflichtexemplarrecht.

das letzte mal habe ich ende der 70er jahre in moskau im gorki-institut mit einer schule fuer literatur zu tun gehabt. ich hatte prof. schmidt-dengler hingelockt. beim abschied ging es uns fast wie johann georg fischer 1843, als er zum letzten mal bei hoelderlin zu besuch war und ihn zum abschied um ein paar strophen bat. die antwort: "wie eure heiligkeit befehlen, soll ich ueber griechenland, fruehling, zeigeist? die freunde fluesterten zeitgeist, und ich bat ebenso."

verzeihen sie diese alteuropaeische reaktion, wie es ide hintze nennen wuerde. natuerlich konnte ich mir denken, dass es bei diesen akademien nicht zu sogehen kann wie seinerzeit in moskau und seiner leipziger filiale. aber, wo liegt der grund fuer den aussergewoehnlichen erfolg dieses projektes, das im deutschen sprachraum seinesgleichen sucht?

inzwischen ist es mir klar geworden. es ist wohl die mischung aus einer auf der hand liegenden und gerade deshalb oft so schwer zu findenden idee, menschen zusammenzubringen, die sich etwas sagen moechten, eine selbstverstaendliche und gerade deshalb oft missverstandene offenheit und eine gehoerige portion professionalitaet. fuer oesterreich eine hoechst ungewoehnliche, aber explosive mischung.

ich glaube, das erlebnis eines jungen autors mit einem grossen kollegen mitvollziehen zu koennen, hatte ich doch das glueck, 10 tage lang mit ingeborg bachmann durch polen zu reisen. das ging nicht ohne schocks, z.b. jener, der ihre antwort auf meine frage in mir ausloeste, warum sie keine gedichte mehr schreibe. "weil ich weiss, wie´s geht", war die tonlose antwort. dabei habe ich immer noch im ohr, wie sie "boehmen liegt am meer" gesprochen hat. ich gratuliere aufrichtig zu der idee der mehrsprachigkeit, dass sie die russen hereinholen. sehr wichtig! ich gratuliere zur idee, sich mit der naechsten akademie in kasachstan um die dortige deutsche minderheit zu kuemmern, endlich jemand aus oesterreich.

endlich nimmt sich jemand bewusst der sprache an, die wir sprechen. wir koennen sie nicht dem wiedervereinigten grossnachbar ueberlassen. wir sind ja keine unterbayrische variante, wie es in der berliner morgenpost zu lesen ist. wir koennen sie uebrigens auch nicht in den germanisten ueberlassen.

angemacht von der idee und ueberzeugt von der richtigkeit der richtung, die sie genommen hat, benuetze ich den anlass, der schule fuer dichtung in wien die kooperation mit der nb und natuerlich auch ihre raeumlichkeiten anzubieten, der nb, wo viele grosse literaturkollegen mit ihren nachlaessen wohnen und dort oft ein ueberraschend neues leben beginnnen. w. faulkner hatte recht, wenn er sagte: "the past is never dead, it is not even past." ich biete die kooperation der nationalbibliothek an, die sich von anderen bibliotheken gerade durch die mehrsprachigkeit und multikulturalitaet ihrer bestaende unterscheidet, und der diese qualitaet bis heute eine verpflichtung ist. schliesslich hat sich grillparzer in unserer spanischen bibliothek die anregung zur "juedin von toledo" geholt. die literatur ist meistens widerstand, das wissen sie besser als ich. einen bibliothek ist geballter widerstand.

angesichts der von anthony judge in aussicht gestellten "marriage between poetry-making and policy-making" moechte ich ihnen abschliessend die mir aufgetragenen gruesse des herrn vizekanzlers erhard busek nicht vorenthalten, der die aktivitaeten ihres vereins mit anhaltendem interesse verfolgt.

die september-akademie der schule fuer dichtung in wien ist somit eroeffnet. ich wuensche ihr besten erfolg.