dr. rudolf scholten:
rede anlaesslich der eroeffnung der april-akademie 93

andere texte

(dr. scholten war damals bundesminister fuer wissenschaft und kunst)

 

meine sehr geehrten damen und herren!

in den jahren 1647 bis 1653 erschien von dem nuernberger patrizier georg philipp harsdoerffer ein lehrbuch fuer gymnasiasten - nach dem vorbild zeitueblicher aehnlicher schriften trichter genannt - und spaeter als nuernberger trichter verspottet, das in sechs lektionen gegliedert "teutsche dicht- und reimkunst ohne behuf der lateinischen sprache in 6 stunden einzugiessen" versprach.

harsdoerffer, der jus, philosophie und sprachen in altdorf und strassburg studierte und - wie ein viel beruehmter gewordender nachfahre - entscheidende anregungen auf seiner italienreise erfahren hatte, war mit diesem vorhaben entschieden moderner als der damalige papst der literarischen theorie, martin opitz, der zum selben thema meinte:

"und muss ich nur dieses erinnern, das ich es fuer eine verlorene arbeit halte, im fall sich jemand an unsere deutsche poeterey machen wolte, der nebenst dem das er ein poete von natur sein muss, in den griechischen und lateinischen buechern nicht wol durchtrieben ist, und von ihnen den rechten grieff erlenert hat"

nun gibt es also seit einem jahr eine schule fuer dichtung in wien, die sich als autonom verwaltetes lehr- und lerninstitut fuer literatur versteht, als laboratorium fuer die verwandlung literarischer impulse, als archiv fuer poesiepaedagogische dokumente, die aber doch auch durch ihren namen suggeriert, dass kreatives schreiben lehr- und lernbar ist.

christian ide hintze, h.c. artmann, wolfgang bauer und gerhard ruehm als nachfahren und nachfolger von philipp harsdoerffer und martin opitz? eine wiener schule fuer dichtung als besonderes kuriosum und raritaet in europa? will man die oesterreicher in grossen mengen zu lyrik-studenten oder gar zu dichtern machen?

kein wunder, dass ein derartiges projekt bei manchen etablierten, den offiziellen und offizioesen literaturverwaltern und literaturverwertern auf skepsis und ablehnung gestossen ist. vor allem bei jenen, die nach wie vor der meinung sind, dass steurgelder fuer kunst- oder literaturfoerderung eigentlich verschwendet sind, besonders dann, wenn damit eine fertigkeit gefoerdert werden sollte, deren ausuebung erst recht subventioniert werden muesste. da helfen weder historische hinweise auf die sappho-schule fuer dichtung noch aktuelle hinweise auf die jack kerouac school in boulder, colorado.

viel eher entspricht hier der oesterreichischen "was brauch ma das"-mentalitaet der ausspruch eines vor kurzem verstorbenen legendaeren fussballtrainers, der dem redakeur einer sportzeitung, um ihm zu zeigen, was er von seiner schreibweise halte, nach einem kurzen augenblick des nachdenkens, wohl um etwas besonders diffamierendes zu fnden, ein "sie poet, sie" entgegenschleuderte.

als minister, der sowohl fuer schule wie auch fuer literatur zustaendig ist, habe ich den werdegang dieses projekts mit einem gewissen interesse verfolgt, vielleicht auch mit einer gewissen besorgten skepsis, weil erfahrungsgemaess neue projekte, im besonderen die kumulation von schule und kunst meist auch die sorgen fuer den minister kulumieren. wolfgang bauer hatte es in dieser beziehung viel einfacher; fuer ihn ist eine schule fuer dichtung schon deswegen besonders interessant, weil sie die "verquickung des brutalen begriffs schule mit dem zimperlichen der dichtkunst" versucht. sehr bald hat sich jedoch - auch fuer mich - gezeigt, dass die optimisten und enthusiasten der ersten stunde wie etwa prof. oswald oberhuber recht behalten sollten.

die schule fuer dichtung in wien hatte einen fulminanten start: in verhaeltnismaessig kurzer zeit waren zwoelf schreibklassen und lehrgespraeche im vergangenen jahr ausgebucht, fuer 300 weitere teilnehmer blieb nur die warteliste.

und h.c. artmann, vortragender an der schule fuer dichtung verlor seine skepsis, ob techniken des krativen schreibens lehr-. und lernbar sind, sehr schnell in der praxis und liess seine schueler oefters bis spaetnachts an seinem literarischen daimonion teilhaben. noch erstaunlicher ist die tatsache, dass die begeisterung der lehrenden und der lernenden, ihre hingabe an einer sache, die in unserer gesellschaft bestenfallls zu den marginalien zaehlt, auch einen ausserordentlichen widerhall in den medien des in- und auslands gefunden hat.

ausfuehrliche kommentare in der neuen zuercher zeitung, der weltwoche, der sueddeutschen zeitung, der frankfurter allgemeinen zeigen, dass damit in oesterreich etwas offensichtlich beispielhaftes und nachahmenswertes gelungen ist, eine attraktion, der sich auch lehrer und vortragende aus allen teilen der welt nicht verschlossen haben. so sind im ersten jahr der schule fuer dichtung beruehmte und etablierte autoren und auch akademisch arrivierte vortragende nach wien gekommen, und es war nicht unter ihrer wuerde substantive, adjektive und verben so lange von ihren schuelern variieren zu lassen, bis einigermassen brauchbare texte entstanden sind.

so erfreulich sich diese entwicklung auch anlaesst, wird es sicherlich auch in zukunft nicht darum gehen, eine art autorenfabrik zu schaffen, in der texte am fliessband produziert werden oder schreibbegabung durch eine kursgebuehr kaeuflich zu erwerben sein wird.

als kultur- und schulpolitiker scheinen mir zwei aspekte der schule fuer dichtung von bedeutung, aspekte, die vielleicht von den initiatoren und organisatoren vorlaeufig noch nicht als vorrangig angesehen werden, mir aber dennoch besonders wichtig vorkommen. wenn etwas in den vereinigten staaten aehnliche institutionen als schule fuer "creative writing" figurieren, so ist dies in einem viel umfassenderen sinn zu verstehen als eine bloss literarische oder poetologische kategorie. schoepferisches schreiben ist in vielen bereichen moeglich. creative writing kann im angelsaechsischen sprachraum guten journalismus bedeuten, aber auch das verfassen von gedichten, wissenschaftsjournalismus, aber auch literarische prosa, vor allem aber bedeutet es eine gewisse reflektierte distanz zur eigenen sprache und zur eigenen ausdruckfaehigkeit.

gerade diese auf die sprache und den sprachgebrauch, das verstaendnis fuer die sprache, nicht nur als mittel der kommunikation, sondern auch als ausdrucksmittel scheint mir in unserer gesellschaft mit beaengstigender schnelle verlorenzugehen. alleinschuldig sind hier zwar nicht nur die neuen medien, aber die tragen mit sicherheit erheblich dazu bei.

einerseits loesen sie sprache vielfach in bildsequenzen auf, konfrontieren uns auf schritt und tritt mit bildern statt mit dem geschriebenen oder dem ueberlegt formulierten gesprochenen wort, andererseits tendiert die sprache selbst dazu, abstrakter, ausdrucksaermer, mittel zum zweck zu werden.

da weder die audiovisuellen medien noch die zunehmende rationalisierung aus unserer welt wegzudenken sind, erscheint mir die beschaeftigung mit sprache, vor allem auch mit der sprache der dichtung und der literatur zwar kein allheilmittel, aber dennoch ein unverzichtbares instrument, sprache als wichtigstes menschliches ausdrucksmittel in moeglichst vielen facetten zu erhalten, ihren noch verbliebenen reichtum zu bewahren und wieder bewusst zu machen.

im engen zusammenhang damit steht auch der zweite aspekt, der eine schule fuer dichtung gerade jetzt wichtig und notwendig macht. anne waldman von der jack kerouac school, die dem lehrkoerper angehoert und die allen ginsberg eine "aktivistin zaertlicher hirnschwingungen" genannt hat, meint, dass in jedem menschen poetische faehigkeiten wohnen, die es freizulegen gilt. akademische poesie, so sagte sie, sei immer ueber etwas, was sie anstrebe, habe dagegen den menschen als lebewesen zum thema. dem beuys´schen lehrsatz, dass jeder ein kuenstler sei, fuegt sie hinzu, dass jeder ein dichter sei.

es waere sehr erfreulich, wenn auch in den institutionalisierten bildungseinrichtungen ein wenig auf die thesen von beuys und kerouac ruecksicht genommen werden koennte, wenn der ganze mensch mehr im mittelpunkt stehen wuerde und weniger die perfektion einzelner fertigkeiten und taetigkeiten.

leider geht der trend unserer zeit in die entgegensgesetzte richtung; gefragt ist fachkompetenz, technisches und wirtschaftswissen sowie alle jene fertigkeiten und techniken, die einem jungen menschen spaeter einmal die moeglichkeit bieten, sich in der gesellschaft moeglichst guenstig zu etablieren und bestimmte statussymbole zu erwerben, auch wenn das kreative potential und die ausbildung der persoenlichkeit dabei zu kurz kommen. ein trend, mit dem sich auch ein unterrichtsminister abfinden muss wie mit der tatsache, dass schulen, wenn es nach den wuenschen der eltern geht, in zunehmenden mass ausbilden, nicht bilden sollen.

meine sehr geehrten damen und herren!

die schule fuer dichtung, die sich nun anschickt, den titel akademie anzunehmen, hat ein ueberaus erfolgreiches erste jahr hinter sich gebracht; der start ins zweite jahr erscheint mir ebenso vielversprechend zu sein.

zu diesem erfolg haben die organisatoren dieser akademie, in ganz besonderem masse selbstverstaendlich die lehrer und vortragenden aus dem in- und ausland, aber auch alle teilnehmer, arrivierte und nicht ganz so arrivierte autoren beigetragen, alle diejenigen, die beschlossen haben, eine gewisse zeit ausschliesslich der beschaeftigung mit sprache und literatur zu widmen.

ich danke ihnen fuer dieses engagement und wuensche ihnen und der schule fuer dichtung auch fuer die zukunft viel erfolg.